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Jutta Schönberg

Die Welt

Die Welt ist schlecht geworden. Überall Kriege, Kämpfe, Aufruhr, zumindest Schlägereien. Die Gesellschaft ist bis zum Kragen voller Hass und tief gespalten. Die vielen Krisen, die soziokulturellen Veränderungen, die rasante technische Entwicklung lassen viele rat- und hilflos zurück. So höre, sehe, lese ich es jedenfalls in den Medien.
Nun, ich selbst bin in dieser Welt wohl noch nicht angekommen. Ich lebe in einer nicht so großen Universitätsstadt, in der es im Allgemeinen eher gesittet und ein wenig verstaubt hergeht. Wir haben einen Oberbürgermeister, der sich ab und an krawallig gibt, aber das soll sich jetzt ändern, auch wenn niemand das so recht glauben kann. Im Moment sind aber alle gut gelaunt, weil die städtische Basketballmannschaft endlich wieder in die erste Bundesliga aufgestiegen ist, was entschieden gegen die Schlechtigkeit der Welt spricht.
Meine Nichte bemüht sich, mich auf dem neuesten technischen Stand zu halten. Das Betriebssystem meines Computers hat sie schon vor Jahren auf Linux umgestellt, mit dem ich im alltäglichen Umgang gut zurecht komme und sehr zufrieden bin. Außerdem gefällt es mir, mich auch irgendwie dem Widerstand gegen den Marktführerriesen Microsoft zugehörig fühlen zu können, was mich einem nicht mehr ganz altersgemäßen Rebellentum verbindet. Dummerweise jedoch könnte ich damit gar nicht richtig angeben, denn von Linux verstehe ich nicht wirklich etwas.
Allerdings hat sich meine Nichte zu meinem Kummer (und Unmut) von ihrem Studium verabschiedet und sich ganz dem Umweltschutz verschrieben. Im Moment befindet sie sich für ein Jahr in Brasilien, um dort den Regenwald zu retten. Wir haben uns etwas missgestimmt voneinander verabschiedet, denn meine Nichte wird kaum erreichbar sein und ich weiß, wie sehr sie mir fehlen wird. Für mich eine Spur zu viel von dem genannten Rebellentum, dem ich sonst mit Sympathie zu begegnen pflege. Meine Nichte ist für mich die Verbindung zu jüngeren Generationen, ich liebe sie
sehr und die Mission, auf die sie sich begeben hat, ist nicht gerade ungefährlich. So leide ich auf ganz besondere Weise unter dem Klimawandel und der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur.
Und natürlich passierte dann das, was immer passiert, wenn es gerade überhaupt nicht passt: mein Drucker gab den Geist auf. Ich war geneigt, den Medien doch vollauf Recht zu geben. Die Welt ist schlecht. Doch ich riss mich zusammen und alsbald fand ich einen guten und günstigen Multifunktionsdrucker, der zudem angeblich linuxkompatibel war. Aber wie sollte ich eine derartige glückliche Fügung den Medien als Gegenbeweis für eine heillos aus den Fugen geratene Welt vermitteln?

Im Internet erhielt ich eine detaillierte Anleitung mit Befehlen, die in das Terminal des Computers einzugeben waren. „Eieiei,wenn das mal gutgeht”, dachte ich. „Da suchst du dir am besten erstmal einen Mitrebellen.” Merke: auch als Rebellin sollte man möglichst nicht alleine sein, besonders, wenn man eigentlich nicht über die nötige Sachkenntnis für einen eleganten Aufstand verfügt.
Diesen Spießgesellen fand ich zunächst in meinem Nachbarn Torsten, der sich bereit erklärte, mir bei der Installation zu helfen. Allerdings warnte er mich vor: „Mit Linux kenne ich mich auch nicht so supergut aus, aber ich gebe mein Bestes.” Also: die Medien übertreiben manchmal wirklich mit der allgemeinen Böswilligkeit der Menschen.
Bald machten wir beiden aufrechten Rebellen uns guten Mutes an die Arbeit. Zunächst lief auch alles wie am Schnürchen. Aber plötzlich gab es Schwierigkeiten, alles verknotete sich – und schließlich gab Torsten auf. Er gab mir noch den Tipp, dass es überall Linux User Groups gibt, die einem bei Schwierigkeiten auch weiterhelfen würden, dann verabschiedete er sich voller Bedauern.
Später machte ich den Rechner und den Drucker noch einmal an und bemerkte voller Erstaunen, dass der Drucker im Programm als installiert angezeigt wurde. Ich probierte es – und : „Es geschehen noch Zeichen und Wunder”, rief ich voller Begeisterung aus. Der Drucker spuckte problemlos Seite um Seite aus. Es geht doch nichts über Tapferkeit vor dem Feind.
Voller Euphorie versuchte ich gleich, auch den Scanner zu installieren, fand die Treiber, entpackte
und aktivierte sie. Leider lieferte der Scan-Versuch dann nur eine Fehlermeldung. Eigentlich platzte ich schon vor Stolz, dass ich überhaupt so weit gekommen war. Torstens Tipp mit den User Groups behielt ich im Hinterkopf, wollte mich aber zunächst an die Profis wenden. Ich kontaktierte den Kundendienst meines Druckers per Telefon und geriet an eine sehr nette Frau.
Woher nehmen die Medien ihre Informationen über die Welt und alle Menschen voller Hass? „Ach da sind Sie nicht die einzige, die sich über die Schwierigkeit neuerdings mit der Installation von Druckern beschwert”, klagte sie mir ihr Leid. „Früher steckte man die Drucker ein und sie funktionierten. Heute dagegen …” Ich hörte ihr aufmerksam zu und kam zu dem Schluss:: Schuld an der Schlechtigkeit der Welt ist der technische Fortschritt, der nicht so funktioniert, wie er sollte und einen dumm, isoliert und alleine zurücklässt! Die Frau vom Kundendienst hatte aber schließlich eine Antwort: Das Ganze liege an zwei Ports in der Firewall, die geöffnet werden müssten. Ich verstand kein Wort und fühlte mich deutlich kleiner.
„Das hast du nun davon, du dumme Schnepfe”, beschimpfte ich mich selbst. „Warum hast du nicht Informatik studiert anstatt Germanistik? Du wärst gegen die Unbilden der Welt besser gewappnet und würdest dich nicht aufführen wie in Schillers Räubern.” Die Rebellion drohte vorerst zu scheitern, denn mir war klar, dass weder Torsten noch ich uns an die Firewall rantrauen würden.
Aber irgendwo nicht ganz so weit entfernt müsste doch jemand zu finden sein, der diese – wie mir doch schien – kleine Scharte ausmerzen konnte.

Doch es begann eine Odyssee, bei der die Suche nach linuxfähigen und hilfswilligen Menschen immer wieder an den unmöglichsten Hindernissen und Zufällen scheiterte. Stellvertretend sei hier nur ein Vorfall erzählt. Endlich hatte ich die Telefonnummer eines professionellen Linuxkundigen in meinem Viertel ergattert und rief dort mit klopfendem Herzen an. Aber ich kam gar nicht dazu, dem Mann, der sich meldete, mein Anliegen zu schildern, da unterbrach er mich schon. Er habe vor kurzem die Diagnose einer tödlichen Krankheit erhalten und könne überhaupt niemandem mehr helfen. Ich musste schlucken. Was sagt man da einem fremden Menschen am Telefon mit so einem Schicksal?
„An so etwas sind keine der üblichen Verdächtigen der Medien Schuld: nicht die Ampel, nicht die Geflüchteten, nicht die Digitalisierung, nicht die KI oder gar das Gendern – das ist einfach das Risiko des Lebens”, seufzte ich ich in mich hinein. Und so sagte ich, dass mir das sehr leid für ihn tue und dass ich hoffe, dass die angestrebte Behandlung wirksam sein würde. Ich schloss mit dem üblichen – und etwas hilflosen: ”Ich wünsche Ihnen gute Besserung!”
Dieses Telefonat hatte mir fast den Rest gegeben. Ich erwog, die weiße Fahne zu hissen und meine Nichte doch irgendwie zu erreichen, notfalls über die Botschaft, ohne freilich zu wissen, wie sie mein Druckerproblem aus mehreren tausend Kilometern Entfernung lösen sollte. Schließlich schüttelte ich mich und fand meinen gewöhnlichen Stolz wieder. Nein, wenn meine Nichte mich so schnöde im Stich ließ, dann doch sicher, weil sie mir zutraute, selber auf Lösungen zu kommen.
Und noch hatte ich ja bei weitem nicht alles ausprobiert.
Endlich entschloss ich mich, Torstens Tipp zu folgen. Und nach nur wenigem Herumirren fand ich eine Linux User Group in der wenige Kilometer entfernten Nachbarstadt. Und dann geschah noch ein Wunder! Gleich nach dem ersten Kontaktversuch überschwemmte mich förmlich eine Welle der Hilfsbereitschaft. Es wurden von diversen Mitgliedern der Gruppe – alles Männer voller Elan – etliche Mails geschickt mit diesen und jenen Fragen, Vermutungen, Tipps und schließlich dezidierten Anweisungen, welche Befehle einzugeben seien, damit man das Problem genauer einkreisen konnte. Rasch stellte sich heraus, dass die Frau vom Kundendienst total auf dem Holzweg gewesen war. Es war entweder wesentlich simpler oder wesentlich schlimmer.
Aussichtslos jedoch auf keinen Fall. Ich war überwältigt von so viel gutem Willen, Zuwendung und – endlich Sachverstand. Sofort war ich bereit, mit ihnen die Rebellion wieder zu wagen.
Das war der Moment, als ich zum Stammtisch der Gruppe in einen Biergarten der Nachbarstadt eingeladen wurde.
„Aber sicher komme ich”, mailte ich euphorisch. „Ich freue mich, euch mal von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen.”
Basierend auf dem Eindruck aus dem Mailverkehr und der hartnäckigen Phantasie von Linux-
Rebellen stellte ich mir eine Versammlung von jungen männlichen Nerds wie Sheldon Cooper vor, die in meiner Gegenwart fachsimpeln und in für gewöhnliche Ohren unverständlichen Worten in hitzigen Streit über mein Druckerproblem geraten würden. Also: ich erwartete einen höchst spannenden und amüsanten Abend.
Im Biergarten angekommen, der reichlich unübersichtlich war, irrte ich herum, immer auf der Suche nach möglichst jungen, pickligen und kurzsichtigen jungen Männern, wurde aber nicht fündig. Da sprach mich ein großer, offensichtlich gutsituierter, freundlicher Herr in meinem Alter an, ob ich die Linux User Group suchte. Erleichtert stimmte ich zu. Die Gruppe saß ein bisschen versteckt am Rande des Biergartens. Und sie hatten extra eine große Standarte für mich auf den Tisch gestellt, auf dem ihr Name stand. Aber mein Suchfokus hätte kaum falscher sein können. Hier saßen keine Sheldon Coopers, sondern eine bunte Mischung aus Männern und Frauen meines Alters, gut gelaunt und fröhlich und schauten mich alle offen und neugierig an.
„Also wirklich, Jutta”, sagte ich mir. „Du guckst eindeutig zuviel Fernsehen.”
Ich fühlte mich willkommen als gleichgesinnte Linux-Nutzerin und nicht als völlig ahnungslose Computerversagerin. Es wurde ein sehr netter Abend, aber das vollkommen anders als ich es mir zusammenphantasiert hatte. Ja, es wurde auch gefachsimpelt, aber so dass ich mich mit meinen Computererfahrungen auch leicht einschalten konnte und nur Weniges überhaupt nicht verstand.
Erstaunt erfuhr ich, dass es in der Region ein dicht gewebtes Netz aus Linux-Fans gab, auch in meiner Stadt, die alle hilfswillig waren und unter denen sich tatsächlich auch ein paar Nerds befanden, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich hatte das lose Ende des Fadens gefunden, der mich sicher durch mein Computerlabyrinth führen würde. In Zukunft würde ich immer genügend Ansprechpartner und -partnerinnen haben, die mir bei Problemen halfen.Und diese Gruppe würde künftig meine Basis sein. Ich fühlte mich angenommen, aufgenommen und – wie man heute so schön sagt – abgeholt. Und am Ende des Abends erklärte sich einer von ihnen – Peter – bereit, bei mir vorbeizukommen und das Problem vor Ort tatkräftig anzupacken. Voller Euphorie fuhr ich heim.
In Gedanken schickte ich eine Nachricht an meine Nichte in Brasilien: „Kümmere dich weiter in Ruhe um die Rettung des Regenwaldes. Keine Sorge um mich. Sämtliche Computerprobleme im Griff.”
Überdies hatte ich tatsächlich meine Rebellen gefunden. Denn wenn man die Standarte an ihrem Biertisch umwendete, wurde der Stammtisch flugs zu einem Treffpunkt für Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens. Medien – wir kommen!

Inzwischen war Peter bei mir, schaute sich kurz um, lobte dies, kritisierte das, setzte sich an den Rechner und begann zu arbeiten. Er hatte auch etwas mehr zu tun, denn nach einem Computerabsturz, der mir vor ein paar Tagen passiert war, funktionierte auch das Drucken nicht mehr. Aber Peter ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Konzentriert und zielstrebig arbeitete er sich vor. Als erstes gelang ihm, dem Drucker eine Probeseite abzuringen. Nur wenig später funktionierte der Scanner auch. Peter wies mich noch ein, wo ich welche Befehle einzugeben hatte – und nach
kaum einer halben Stunde war der Zauber gewirkt.
Ich war äußerst erleichtert. Nicht nur war ein Problem behoben, das mich Wochen beschäftigt und immer wieder in Atem gehalten hatte, ich hatte auch neue nette und interessante Menschen kennengelernt.
Und die Welt? Sicher gibt es immer noch die schrecklichen Kriege, sinnlose Gewalt und Hass, aber eben auch Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Aufgeschlossenheit und Neugier. Diese Dinge sind oft so klein, dass sie nie in den Medien vorkommen. Sie würden dort auch gar nicht hinpassen. Und so sind die Medien auch nicht gleichbedeutend mit unserer Welt. Die Welt fängt vor unserer Haustür an. Wir haben es ein Stück weit selbst in der Hand, wie sie aussieht. Und da zeigt sich wahres Rebellentum und wahre Freiheit.
Heute Morgen begegnete mir eine Frau. Neben ihr lief ein großer schwarzer Hund, der stolz wie Oskar die Brötchentüte in seinem Maul trug, offenbar ohne in Versuchung zu sein, die Brötchen selbst zu fressen.
Ich lachte und sprach die mir völlig fremde Frau an: „Das ist aber mal ein braver Hund!” Die Frau lachte auch und blickte ihren Hund voller Zuneigung an. „Ja!” sagte sie glücklich. Die Frau, der Hund und ich hatten einen tollen Start in den Tag.


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